Not lehrt Phantasie
Wenn die Maus satt ist (sagt die Tante zu dem kleinen Jungen,der am Essen maekelte),schmeckt das Mehl bitter.Der Ueberfluss unserer Ueberflussgesellschaft ergiesst sich ueber uns ja nicht blo?in Form von Waren und Dienstleistungen;auch die kulturellen Produktionen und Veranstaltungen haben schon laengst zu einer Art Uebersaettigung gefuehrt.Talent und Qualitaet verschwinden in der Masse.Wer in seiner Stadt an einem beliebigen Abend die Wahl hat zwischen einer Oper,zwei Schauspielen,drei Konzerten,vier Vernissagen,fuenf Lesungen,sechs Filmen und sieben Vortraegen,wer ausserdem verkabelt ist und regelmaessig die Buchhandlung aufsucht,dem schmeckt das Mehl bitter.
Die Alternative steht uns bevor,denn auf Laeder und Kommunen kommen zum Teil umfangreiche Sparmassnahmen zu.Wenn oekonomische und soziale Probleme zunehmen,wenn sogar die Bundeswehr schrumpft,dann wird man auch im kulturellen Bereich den Guertel enger schnallen muessen.Schon befuerchten die Kulturpolitiker,Intendanten und Direktoren katastrophale Auswirkungen.
Die spannende Frage lautet,wie die kulturellen Institutionen sich auf den Mangel einstellen werden.Wie viele Museen,wie viele Theater brauchen wir wirklich? Brauchen tut der Mensch,wenn wir die Bilder aus Sarajevo und Somalia sehen,einwarmes Bett,ein Stueck Brot,einen Schluck Wasser.
Und dennoch ist Kultur zu allen Zeiten eine Art Lebensrettung gewesen,gerade auch in Zeiten der Not.Es steht gar nicht in unserer Macht,auf kuenstlerische Produktivkraefte wie Phantasie,Gefuehl,Intelligenz und Lust am Spiel freiwillig zu verzichten.Es steht auch nicht in der Macht eines Haushaltsausschusses,der die finanziellen Mittel kuerzt.
Geistige Sattheit ist ein unguenstiger Augenblick fuer die Wahrnehmung der Notwendigkeit von Kunst.Aber vielleicht wird der Mangel auch die herrschende Muedigkeit vertreiben und die Phantasie entfesseln.Luxus ist schoen,aber nicht die Voraussetzung von Kultur.Eine Kultur der Reduzierung und des Verzichts koennet den Vorzug haben,dass das Mehl nicht mehr bitter schmeckt,und die Tante haette wieder recht.
(nach:U.Greiner in Die Zeit 26.2.93)
Worterklaerung:
Maekeln nicht zufrieden sein,noergeln
Schrumpfen kleiner werden
Aufgaben:
1.Erklaeren Sie in ganzen Saetzen und mit eigenen Worten die Bedeutung folgender Ausdruecke:
a) Ueberflussgesellschaft
b)den Guertel enger schnallen
2.Was moechte der Autor durch den Vergleich mit der satten Maus zum Ausdruck bringen?
3.Not lehrt Phantasie.Erklaeren Sie,ausgehend von der Ueberschrift,die These des Autors.
4.Sollten angesichts zunehmender wirtschaftlicher Probleme die finanziellen Mittel fuer den kulturellen Bereich gekuerzt werden?Nehmen Sie Stellung.